Kurz nach 15:30 türkischer Zeit schlugen in Akçakale an der türkisch-syrischen Grenze Granaten ein, so berichtete das Wall Street Journal am vergangenen Mittwoch unter dem Titel "Türkei schlägt nach syrischer Bombardierung zurück" (1). Das türkische Fernsehen zeigte Filmaufnahmen aus einem Grenzdorf, in dem Granaten eingeschlagen sein und mehrere Zivilisten getötet haben sollen.
Der syrische Botschafter bei der UN gab eine Stellungnahme ab (2). Darin hieß es, Syrien wolle die Herkunft des Beschusses aufklären, respektiere die territoriale Souveränität seiner Nachbarn, und erkläre seine Solidarität und Betroffenheit Opfern und Angehörigen gegenüber. Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Beşir Atalay behauptete hingegen, die syrische Regierung hätte damit den Beschuß eingestanden und sich entschuldigt (3). Diverse Redaktionen übernahmen diese falsche Behauptung der türkischen Regierung, und rücken seither nicht mehr davon ab.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ über sein Büro verbreiten, die türkischen Streitkräfte hätten "für diesen verwerflichen Angriff unmittelbare Vergeltung geübt, indem mittels Radar identifizierte Ziele bombardiert wurden". Syrischen Berichten zufolge sollen Ziele in der Provinz Idlib getroffen worden sein. Der von der Türkei indirekt eingestandene Einsatz von Artillerieaufklärungsradar im Grenzgebiet wirft die Frage auf, wie weit die Beteiligung des türkischen Militärs an den Kämpfen um Grenzübergänge geht, die für den Nachschub der Rebellen Bedeutung haben.
Recep Tayyip Erdoğan, der seit mehr als einem Jahr die Organisation eines Bürgerkriegs von türkischem Staatsgebiet aus ermöglicht und unterstützt, soll von "Provokationen durch das syrische Regime" gesprochen und erklärt haben, die Türkei bewege sich mit ihren Vergeltungsaktionen im Rahmen des Kriegsrechts und der internationalen Rechtsordnung, die allerdings weder ein Recht auf Vergeltung kennt, noch die mutwillige Bombardierung von Nachbarländern gestattet.
Auch am Donnerstag setzte das türkische Militär die Vergeltungsaktionen fort und bombardierte weitere Ziele in Syrien. Mehrere hochrangige Diplomaten erklärten, den militärischen Amoklauf des in den letzten Wochen innenpolitisch unter Druck geratenen Islamisten Erdoğan zu unterstützen, und drohten Syrien für den Fall einer Gegenwehr gegen die türkischen Angriffe mit Vergeltungsaktionen der NATO. Unter anderem erklärte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, die Angriffe der Türkei auf Syrien zu unterstützen, und lobte sein eigenes Vorgehen als "solidarisch und besonnen".
Während türkische Streitkräfte ihre Angriffe auf Syrien fortsetzen, forderten mehrere Mitglieder des UN-Sicherheitsrats die Einstellung der Verletzung türkischen Hoheitsgebiets durch Syrien. Wie das folgende Foto aus einem aktuellen Bericht des ZDF zeigt, steht das dem türkischen Ort Akçakale gegenüberliegende syrische Grenzdorf Tell Abyad unter Kontrolle der mit der Türkei verbündeten FSA:
Die Meldungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten. Von Ain al-Arab, etwa 50 km westlich Tell Abyad, bis nach Qamischli, rund 200 km östlich davon, soll das gesamte Grenzgebiet unter kurdischer Kontrolle stehen. Die syrische Armee hätte sich aus diesem Streifen bereits vor den aktuellen Zwischenfällen zurückgezogen. Vor zwei Wochen wurde berichtet, die FSA habe den Grenzübergang erobert. Zwei Tage vor dem Granatenbeschuss hieß es, dort habe ein Gefecht zwischen der türkischen Armee und der PKK zugerechneten Kurden stattgefunden.
Auch am Freitag soll eine Granate auf türkischem Gebiet eingeschlagen und auf einem Feld in 50 Meter Entfernung von der Grenze in der Provinz Hatay detoniert sein, in der sich das Hauptquartier der FSA im Zeltlager Apaydin befinden soll. Zwar hatte die Führung der Rebellenarmee in einer nach Bekanntwerden dieses Standorts veröffentlichten Videobotschaft behauptet, sie hätten ihr Hauptquartier nach Syrien verlegt, doch steht zu vermuten, dass damit nur der tatsächliche Aufenhaltsort verschleiert und die türkische Regierung entlastet werden soll.
Die türkischen Streitkräfte nahmen diesen Unfall, zu dem Provinzgouverneur Celalettin Lekesiz in Hatay erklärte, er habe keinerlei Schaden verursacht (4), zum Anlass erneuter Angriffe auf das Nachbarland Syrien. Den Angaben des Gouverneurs zufolge liegt die nächste menschliche Behausung in Güveççi, etwa drei Kilometer vom Einschlagsort entfernt, wo sich einige hundert syrische Flüchtlinge in provisorischen Unterkünften aufhalten.
Die Redaktion der Welt dramatisiert unter dem ebenso spitzfindigen wie irreführenden Titel: "Türkei schießt nach Angriff aus Syrien zurück" (5) mit einer Entfernungsangabe von 100 Metern, dichtet der türkischen Regierung an, sich um Deeskalation zu bemühen, konstruiert aus der Formulierung einer Presseerklärung des UN-Sicherheitsrats (6) eine nicht existierende Feststellung der für den Vorfall in Akçakale Verantwortlichen, und verortet Olivenhaine im Wald um Güveççi.
Ähnlich abenteuerlich muten diese Videoaufnahmen des türkischen Fernsehens vom vergangenen Mittwoch an, mit denen die Erklärungen des türkischen Ministerpräsidenten illustriert wurden. Die Schattenlängen verschiedener Sequenzen weisen auf unterschiedliche Tageszeiten hin, eine zeigt sogar senkrechte Schatten, wie sie zu dieser Jahreszeit nicht mehr vorkommen:
Auffällig ist auch die hochpräzise Kameraführung, die mit überraschender Geschwindigkeit teils rechtwinklig zur Blickrichtung, teils sogar rückwärts laufend als gewichtiges Indiz für ein geübtes Aufnahmeteam vor Ort spricht. Von Sekunde 50-55 sieht man einen von mindestens zwei offenbar sehr geschickten Artisten mit geschulterter Kamera von rechts nach links durch das Bild laufen, wärend er mit dem linken Arm Regie-Anweisungen zu geben scheint.
Die Präsenz von mehr als einem derart geübten Kameramann, der bereits vor dem Erscheinen der Ambulanzen eine ebenso schwer erklärbare Gruppe Polizisten filmt, ist in einem abgelegenen Grenzdorf kaum zu erklären. Die professionelle Vorgehensweise verblüfft. Das Verhalten der Polizisten erinnert an Filmstatisten, deren Habitus und Gestik nicht mit der Situation korreliert.
Die Regierung Erdoğan hatte bereits vor Wochen angekündigt, keinesfalls hinzunehmen, dass die syrische Regierung den Kurden im syrisch-türkischen Grenzgebiet Autonomie einräume (7). Die Türkei intervenierte im Februar 2008 mit etwa 10.000 Soldaten im Nordirak. Mit Luftschlägen und Bodentruppen in Battalionsstärke reagierte die türkische Armee zuletzt im Oktober 2011 auf Angriffe kurdischer Milizionäre der PKK (8). In diesem Zusammenhang dürfte auch die Entscheidung des türkischen Parlaments stehen, eine militärische Intervention in Syrien zu ermöglichen.
Der schwelende kurdisch-türkische Bürgerkrieg forderte mit 45.000 Toten bisher rund eineinhalb mal so viele Opfer wie die Kämpfe in Syrien. Für die Kurden im syrisch-türkischen Grenzgebiet stellen die Drohungen Erdoğans vor diesem Hintergrund eine massive Gefährdung der eigenen Interessen dar. Eine Schwächung der syrischen Position durch einen Konflikt zwischen Syrien und der Türkei stärkt zwar ihre Forderung nach Autonomie, setzt sie aber auch dem Risiko türkischer Interventionen aus.
Mit Granatwerfern, über die jede Konfliktpartei verfügt, Ziele in der Türkei anzugreifen, liegt weder im kurdischen noch im syrischen Interesse, nützt aber einer Regierung, die vor diesen Ereignissen mit Interventionen drohte, für die sie einen Casus Belli benötigt, ohne den die damit einhergehende Verletzung der territorialen Souveränität Syriens international nicht durchgesetzt werden kann.
Militärische Interventionen liegen allerdings auch im Interesse der mit der türkischen Regierung verbündeten Dachorganisation syrischer Aufständischer namens FSA, deren Kräfte in Syrien aufgerieben werden, ohne die Regierung in Damaskus erkennbar schwächen zu können.
Damit fügen sich Erdoğans prophetische Ankündigen und die aktuellen Ereignisse, militärische Notlagen einer ausgezehrten Rebellen-Armee und internationales Interesse an Fehlschüssen, Ballett-Einlagen türkischer Kameraleute und wundersame Radarortungen zu einem Gesamtbild, das keine Fragen mehr offen läßt, und nur mit politischem Eigenwillen anders zu interpretieren ist.
1) http://online.wsj.com/article/SB10000872396390443768804578034372539783626.html
2) http://www.presstv.ir/detail/2012/10/03/264826/syria-probing-shelling-of-turkish-town/
3) http://www.haaretz.com/news/middle-east/syria-apologized-via-un-for-mortar-strike-says-turkey-1.468217
4) http://www.haberler.com/suriye-deki-olaylar-2-3994357-haberi/
5) http://www.welt.de/politik/ausland/article109661036/Tuerkei-schiesst-nach-Angriff-aus-Syrien-zurueck.html
6) http://www.un.org/News/Press/docs/2012/sc10783.doc.htm
7) http://www.sueddeutsche.de/politik/buergerkrieg-in-syrien-erdogan-droht-mit-militaeraktion-auf-syrischem-gebiet-1.1423473
8) http://www.fr-online.de/politik/kurdengebiete-tuerkische-truppen-marschieren-im-nordirak-ein,1472596,11028038.html
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